Michaela Vieser
14 min readMay 9, 2023
Zwei Tage vor dem Fischsterben

Schweigen an der Oder

Michaela Vieser

Während der Hundstage, als die Luft über den weiten Oderauen flirrte und flimmerte, verstummte der Fluss. Die Stille sickerte in die ausgedörrte Erde, sie drang in das Schilf und ließ die Ulmen, Weiden und Stieleichen reglos zurück. Die Ursache dieser Lähmung war mehr zu fühlen als zu hören, eine Abwesenheit von Tieren, Insekten, Vögeln, deren Stimmen, Bewegungen. Das war noch Tage vor den toten Fischen. Dann, ab dem 10. August, tauchten die leblosen Körper von Stören, Quappen, Hechten, Ukelein und unzähligen anderen auf und gelangten in die Nachrichten. Fotos von lidlosen Fischaugen, die hinaus starrten in ein absolutes Grauen. Die Münder in einem letzten Atemzug geöffnet, unfähig, Sauerstoff für den Körper, die Organe, das Leben darin zu ziehen. Tote Fische an Orten, an denen sie nicht sein sollten: auf der Wasseroberfläche treibend, angespült zwischen dem Schilf und an den schlammigen Ufern, in den Wellenbrechern angestaut. Die Muscheln und Schnecken blieben ungesehen im Flussbett liegen, die Schalen geöffnet, ein letzter stummer Schrei. Hunderte von Tonnen an Biomasse.

Außerhalb der Fotos und Medien war die wirkliche Katastrophe nur teilweise sichtbar: Der Gestank der verwesenden Fische auf der Sondermüllsammelstelle hinter dem

Krankenhaus in Seelow, das tagelange Ausbleiben von Vogelgezwitscher entlang des Flusses, das leise Flüstern der Menschen im Oderbruch: Was ist die Ursache? Wird es andauern? Wann wird es enden?

Die Bewohner dieser Landschaft taten das, was sie immer tun, wenn der Fluss Hochwasser führt und die Deiche brechen: Sie finden Trost in der Solidarität. Sie bilden einen Trupp von freiwilligen Helfern und handeln. In diesem Fall verteilten sie Masken und Plastikoveralls, reihten sich in einer Helferschlange ein und fischten die Kadaver aus dem Fluss — Zivilisten, die Freiwillige Feuerwehr und die 20 Einsatzkräfte vom Technischen Hilfswerk. Ob die Ursache für das Fischsterben auch lungenschädliche Gase ausströmte war zu diesem Zeitpunkt noch nicht geklärt.

“Und ich dachte, das ist doch mehr als peinlich eigentlich. Also, wenn es nicht so traurig gewesen wäre, hätte man sich totlachen können über diese, diese billige Aktion“, sagt Norbert Bartel, Umweltaktivist und Betreiber einer Herberge für Radfahrer, die sonst den Oderradweg entlang radeln und jetzt ausbleiben. „Zu sehen, wie Frauen in Gummistiefeln und Gummihandschuhen versucht haben in so einem Behälter irgendwie diese vergammelten Fische einzusammeln, während er beim Anfassen zerfiel. Oder die örtliche Feuerwehr mit ihrem viel zu kleinen Motorboot, das mit etwas größeren Netzen in die Mitte des Flusses fuhr. Fisch zersetzt sich bei dieser Hitze innerhalb von 36 Stunden.” Norbert Bartel ist wütend, dass sonst keiner kam um zu helfen.

Die Menschen im Oderbruch sind es gewohnt, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Die nächste Polizeistation ist von vielen der kleineren Dörfer knapp 40 Blaulicht-Auto-Minuten entfernt. Wenn etwas kaputt geht, helfen die Nachbarn. Bei einem Fischsterben kippt der örtliche Schäfer Sandsäcke in die Mündung des Nebenflussarms, damit seine Schafe weiterhin daraus trinken können. Die Gemeinden tackern Schilder an bestehende Pfosten: „Achtung gegenwärtige Gefahr! Fischsterben in der Oder. Kontakt zu Oderwasser ist vorsorglich zu meiden.“

Während das Wort Katastrophe in aller Munde war, wurde eine offizielle Katastrophe

nie ausgerufen. Die Havarie vernichtete 60–70% der Fische und 90% der Muscheln und Schnecken in der Oder. Niemand weiß, wie lange es dauern wird, bis der Fluss sich erholt.

Es gibt einen Unterschied in der Terminologie zwischen dem, was wir für ein Desaster von katastrophalem Ausmaß halten und dem, was als offizielle Katastrophe gilt. Ersteres ist Aufgabe der Kommunen: Sie schätzen den Schaden ein und kümmern sich darum. Im letzteren Fall kann die Armee hinzugezogen werden. Die Einsätze werden schnell und gründlich durchgeführt, eine ganze Nation wird mobilisiert. Die Aufräumarbeiten überwachen unabhängige Institutionen und können sich über Jahrzehnte hinziehen. Es bedeutet aber auch einen bürokratischen Alptraum, der die kommunalen Rathäuser jahrelang heimsuchen wird: Vermutlich sind die Verantwortlichen hier unerfahren im Umgang mit den Eventualitäten eines solchen Vorfalls und müssen selbst beurteilen: Wie schlimm ist es wirklich? Werde ich mich lächerlich machen, wenn ich zu schnell rufe, oder werde ich als unvorsichtig gelten, wenn ich es nicht tue? “Unser Landrat hat entschieden, dass es zu teuer wäre, die Armee zu holen. Man könnte meinen, er übertreibe. Immerhin ist es nur eine Umweltkatastrophe, keine Flut”, beurteilt Norbert Bartel das Vorgehen seiner Lokalpolitiker. Und die anderen? “Die Fische werden sich an die neuen Verhältnisse anpassen müssen”, sagt ein Journalist der MOZ, der lokalen Oderbruch Zeitung, auf die Frage, was das Fischsterben für die Region bedeutet. Wie die Überschwemmungen der Vergangenheit sieht er diese Katastrophe als ein vorübergehendes Auflehnen des Flusses. Danach muss das Leben weiter gehen.

Manche Umweltkatastrophen bleiben in der Landschaft und prägen sie, für Jahre oder für Jahrhunderte. Sie können auch in den Körpern und Familien nachwirken, als Trauma, Verletzung, Diskriminierung, Ungerechtigkeit oder Schmerzen. Es dauerte Jahrzehnte, um die Sedimente in der japanischen Minamata-Bucht zu beseitigen, nachdem das Quecksilber aus der Chemiefabrik des Chisso-Konzerns ausgelaufen war. Viele der Opfer leiden noch immer jeden Tag unter den Folgen. In Bhopal, 40 Jahre nach dem giftigen Methylisocyanat-Gasleck, ist die Erde weiterhin verseucht und fordert täglich neue Opfer. Die Strahlung in Fukushima wird den Landstrich für die nächsten 30 Jahre unbewohnbar machen. Die Halbwertzeit von Tschernobyl beträgt 24.000 Jahre. Diese und die anderen sich häufenden ökologischen Katastrophen sind keine einmaligen Ausrutscher, sondern kumulieren sich mit unserem gewählten industriellen Lebensstil, sind stille Mahnungen an die Missstände und Unfälle, zu denen wir Menschen neigen, die wir zulassen und die geschehen, trotz akribischer Planung mit der wir das Undenkbare zu verhindern versuchen.

“Die ersten amtlichen Bekanntmachungen befassten sich mit: Wessen Schuld ist es nicht”, sagt Dr. Christian Wolter, ein Forscher des Leibniz Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei, kurz IGB, der seit mehr als 20 Jahren die Wasserqualität der Oder beobachtet. Es war an einem Montag, dem 8. August, kurz nach dem Wochenende, als die Fischereibehörde in Frankfurt (Oder) bei ihm anrief. Ungewöhnlich viele tote Fische waren dort und in Reitwein aufgetaucht. “Die wussten wirklich nicht, was sie tun sollten, weil ihre Chefs im Urlaub waren”, berichtet Dr. Wolter. Bei einer derartigen Katastrophe schaltet sich normalerweise das internationale Komitee zum Schutz der Oder ein. Bestehend aus tschechischen, polnischen und deutschen Vertretern gibt es im Falle eines Falles allen Beteiligten sofort Anweisungen: der lokalen Verwaltung, der nationale Ebene, den Umweltbehörden. Doch nichts geschah. Das minutiös organisierte Alarmsystem versagte.

Um die Ursache für das Fischsterben zu ermitteln, mussten die Forscher des IGB

auf forensische Spurensuche gehen und alle denkbaren Möglichkeiten untersuchen. Jedes Indiz, dem sie folgten, spiegelte ein vom Menschen verursachtes ökologisches Fehlverhalten wieder: mangelndes Engagement im Naturschutz trotz akribisch aufgestellter Richtlinien wie Natura 2000, fehlende Absprachen zwischen den Nationen, die sich die Ufer des Flusses teilen oder von Lobbyisten gesteuerte Aktivitäten, die unter dem Mantel des vermeintlichen Hochwasserschutzes den Fluss ausbauen und eventuell sogar Hochwasser begünstigen.

Einer der ersten Punkte, den es für Dr. Wolter und das Team des IGB zu klären gab war, ob die Fische aufgrund von Sauerstoffmangel, ausgelöst durch den Abfluss von

landwirtschaftlichen Düngemitteln und Gülle, erstickten. “Ich war in diesem Sommer an der Elbe, wo auf einer Strecke von 45 km der Flusslauf sauerstoffarm ist. Ein Loch im Fluss, in dem es kein Leben gibt. Es ist erschreckend. Und traurig.“ erzählt Dr. Wolter. Aber: Die Sauerstoffwerte in der Oder waren tagsüber hoch, während die Messungen in der Nacht niedrige Werte anzeigten. Ein gutes Zeichen also für eine aktive Photosynthese. “Als nächstes suchten wir nach erhöhten Quecksilberwerten. In der Nähe von Reitwein wird das Flussbett tiefer ausgegraben. Die baggern da ungeschützt und schlampig, so dass Quecksilber aus den Sedimenten freigesetzt wird.” Es ist eine seit langem bestehende Kontroverse, ausgelöst von den Plänen der polnischen Regierung, die im Einvernehmen mit dem deutschen Wasserstrassenamt vorangetrieben werden, den

Fluss für die Schifffahrt auszubauen. Die Umweltbehörden sind strikt dagegen. Ein tieferer und folglich schneller-fließender Fluss wird den umliegenden Feldern das Wasser entziehen, intensivere Dürreperioden verursachen und dabei auch zu mehr Überschwemmungen führen. „Der ganze Ausbau, der ist nur für ein paar Bauunternehmen interessiert. Es gibt gar nicht die Infrastruktur, wo man was braucht. Das einzige, was auf der Oder transportiert wird bisher, ist Schrott. Das ist Sand. Und Kohle. Dafür gibt es gar keine Abnehmer mehr“, sagt Dr. Wolter ungläubig. Zwar waren die Quecksilberwerte im August alarmierend hoch, aber nicht so hoch, dass sie die Katastrophe ausgelöst hätten. Eine kleine Erleichterung.

“Kurz vor dem Fischsterben stiegen die Wasserstände an den Messstationen. Jemand muss irgendwo am Fluss eine Schleuse geöffnet haben”, erklärt Wolter weiter. “Ich habe das schon erlebt. Wenn ein schweres Boot etwas flussaufwärts transportieren muss, um eine Brücke oder ein anderes Bauwerk zu reparieren, wird eine Schleuse geöffnet und eine riesige Welle erzeugt, die stromabwärts wandert. Ein Boot, das sich mit der Geschwindigkeit der Welle bewegt, fährt auf einem höheren Wasserpegel. Selbst wenn der im Sommer so niedrig ist wie nie zuvor, wird diese Welle einen künstlichen Anstieg erzeugen.” Entlang der Oder gibt es neben den vielen legalen, auch 282 illegale Einleitungsstellen. Die registrierte Welle, die sich aus einer von ihnen ergossen haben muss, führte Tonnen von Brackwasser mit sich, und darin Industriesalze, mehr, als die Messgeräte aufzeichnen konnten. 23.500 Tonnen Salz wurden auf diese Weise zwischen dem 5. und 15. August in den Fluss gekippt. Doch war auch das nicht der Auslöser für die Katastrophe. Es war eine Algenart, die Prymnesium parvum, auch Goldalge genannt. Wenn sie blüht, setzt sie ein Gift frei, das die Weichteile von Fischen, Muscheln und Schnecken zersetzt. Die Alge hätte nicht in einem fließenden Fluss blühen dürfen. Sie hätte diese Gifte unter diesen Umständen nicht freisetzen dürfen. Aber es geschah. Die Wissenschaftler des IGB glauben, dass sie mit dem ausströmenden Brackwasser in die Mitte des Flusses trieb, wo sie sich mit der Welle fortbewegte und auf ihrem Weg alles Leben tötete. Noch schlimmer ist, dass jetzt der Fluss, das Sediment und der Schlick von ihr imprägniert sind und sie wieder blühen wird, wenn der Sommer heiß und die Widerstandsfähigkeit des Flusses weiterhin gering bleibt.

Während das Fischsterben im Sommer 2022 das erste seiner Art in der Oder war, so ist das, was dazu führte, eine Entwicklung, die sich über zwei Jahrtausende zurückverfolgen lässt und der vom Menschen beeinträchtigte Lauf des Flusses liest sich wie die Historie einer entstehenden Katastrophe. Vielleicht begann es mit den Römern: Mit deren Abholzen der bewaldeten Hügel der Karpaten wurden die reichen und fruchtbaren Böden ausgewaschen und weggeschwemmt. Die Oder führte sie in das Flachland des Oderbruchs, wo sich der Fluss natürlich verlangsamte. Über Jahrhunderte lagerten sich hier, im einst größten Binnenflussdelta Europas, die Waldböden ab. Es war König Friedrich II., der die Idee hatte, diese Feuchtgebiete in fruchtbare Ackerflächen zu verwandeln und Ordnung in die unerschlossenen Sümpfe zu bringen. Als Regent wollte er die Hochwasser mit Kanälen, Gräben und Dämmen aufhalten, eine sogenannte Landschaftsmaschine schaffen, ein filigranes, technisch-interagierendes System, das eine von Fischern besiedelte Landschaft in eine von Bauern beackerte transformieren sollte. So rief er im 18. Jahrhundert Kolonisten aus Holland, Frankreich und anderen europäischen Gegenden zu Hilfe. “Hier habe ich eine Provinz in Frieden erobert, die mich keinen Soldaten gekostet hat”, soll er gesagt haben. Die Trockenlegung des Deltas hatte ihn keinen Soldaten gekostet, wohl aber ein ein Ökosystem, das von Leben wimmelte.

Nachkommen dieser frühen Kolonisten bilden auch heute noch das Rückgrat der Bevölkerung in dieser Region. Die Figur des Königs, mit der eingeführten Kartoffel in der Hand, thront über Dorfplätzen, blickt von Restaurantschildern, verziert Bieretiketten und Grillsaucen, lockt die wenigen Touristen, die entlang des Deiches zur Ostsee radeln. Er hat hier einen neuen Lebensraum erschlossen, den Hunger mit einer Knolle besiegt, auch wenn es letztendlich nicht die Kartoffel, sondern die Zuckerrübe war, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts hier angebaut und gleich vorort in Industriezucker umgewandelt wurde.

Die Reiseführer der ehemaligen DDR verschwendeten nicht viele Worte an das Oderbruch. Trotz des weiten Himmels der Auenlandschaft, wo die Farbe der Wolken die Wellen des Flusses färbt und ein Sturm im Entstehen beobachtet werden kann. Trotz des Spektakels der vorbei ziehenden Kraniche, der Störche und Reiher, der Steinadler, Kröten, Füchse, Rehe, Wildschweine. Das Oderbruch diente nie zur Erbauung der sozialistischen Gemüter wie der Thüringer Wald, das Elbsandsteingebirge, die Strände der Ostsee: Es sollte bewirtschaftet werden. In den späten 70er Jahren des letzten Jahrhunderts war es zu einer landwirtschaftlichen Utopie herangereift, die von Diktatoren wie Jassir Arafat und Kim II-Sung besucht wurde, in der Absicht von den staatlichen LPG’s zu lernen. Noch heute werden im Oderbruch 1,6 Millionen Tiere in Ställen zusammengepfercht gehalten, unsichtbar für die Augen der rund 50.000 hier lebenden Menschen. Es gibt Bestrebungen, die Region in ein Erholungsgebiet für Berliner zu entwickeln. Ironischerweise beklagen sich diese über ein Fehlen von Natur-Idylle, manifestiert durch die Abwesenheit von Tieren auf den Weiden.

Lange bevor die Flüsse ihre Namen erhielten, bevor Städte an ihren Ufern gebaut wurden und Zivilisationen entstanden, waren sie eigenständige Entitäten, die Leben einluden und mit sich führten. Sie formten Landschaften, Täler, Deltas, Auenwälder, Schluchten, Seen und Überschwemmungsgebiete.

Die frühen Namen der Flüsse verweisen auf ihre Fähigkeit, sich zu bewegen: rhein (wie in Rhein und Rhur) bedeutete einst fließen, stetig und vorwärts, mit einer Intention, die weder vor Dürren noch vor Überschwemmungen Halt machte. Der Name der Oder stammt aus der alten indogermanischen Sprache und bedeutet übersetzt mäandern. Das Mäandern hat sich auch in der Sprache dieser Region niedergeschlagen, wo das deutsche Ufer in den Fluss abfällt und auf der anderen Seite als polnisches wieder auftaucht. Hier gibt es eine unausgesprochene Sitte unter den Menschen: Wenn sich zwei treffen, reden sie zuerst über den Fluss. Es ist eine Möglichkeit, das Gespräch am Fließen zu halten, die sozialen Kontakte zu pflegen, mit einem Thema, das weder zu persönlich noch zu politisch ist, in dieser unterbesiedelten Region, in der Meinungsverschiedenheiten kein Luxus sind, den es zu bewahren gilt, sondern ein Hindernis, um Dinge zu erledigen. Das Sprechen über den Fluss drückt auch eine tiefe Verbundenheit mit dem Gewässer aus, mit seiner Lebenskraft und seiner gleichzeitigen, oft zerstörerischen Unberechenbarkeit. In den kalten Tagen des Winters fragt einer den anderen: “Hast du die Briegener Gänse gesehen?”, eine Anspielung auf die runden Eisschollen mit dem leicht erhöhtem Rand, die auf den Wellen zu tanzen scheinen, ein Naturphänomen, das in den meisten anderen Flüssen Europas verschwunden ist. Sie entstehen in der Nähe von Briegen, weiter oberhalb der Oder, wo der Grund des Flusses mit Kieselsteinen bedeckt ist, hergerollt und liegen geblieben von den Gletschern der letzten Eiszeit. Im Winter haften sich Eiskristalle an die kleinen Partikel um die Steine, steigen auf und sammeln auf dem Weg nach oben mehr Eis auf. Die Briegener Gänse sind nicht nur schön anzuschauen, sondern sind auch ein Zeichen für ein gesundes, resilientes Flussbett: Im Frühjahr dienen die Kiesel-Zwischenräume als Laichplätze für viele Fischarten, sind Lebensraum für Algen und Meiofauna. Ein Phänomen wie die Eisschollen zu beobachten bedeutet, einen Teil dieses Gewässers zu verstehen, das sich von den Karpaten bis zur Ostsee erstreckt.

Trotz dieser Verbundenheit mit der Natur ist das Wort Umweltschutz belastet im Oderbruch. In ihm verstecken sich Anweisungen, die von Berlin oder Brüssel stammen, von Politikern, Akademikern und Experten. Von Fremden. Und der Begriff kommt einher mit einer Angst das zu verlieren, was die Menschen mit der Landschaft verbindet — das Haus, den Hof, das Erbe. 2006 veröffentlichte der Harvard Professor David Blackbourn „Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der Deutschen Landschaft“ und beginnt gleich mit dem Beispiel des Oderbuchs. Er rät dazu, die dem Fluss abgerungenen Landschaften wieder an den Fluss zurückzugeben — was nichts anderes bedeutet, als die Menschen, die in den Poldern und Hochwassergebieten wohnen, umzusiedeln. Als im November 2022 eine Mahnwache unter dem Motto „Rettet unser Oderbruch“ auf dem Marktplatz von Letschin stattfand, versammelten sich 500 Menschen, um gegen die das Oderbruch betreffenden Umweltmassnahmen der Bundesregierung zu demonstrierten. Auch die Briegener Gänse flatterten dabei: wegen der Besonderheit der Oder, das Eis vom Grund herauf zu bilden, kann im Winter gefährliches Eishochwasser entstehen. Lobbyisten, die für den weiteren Ausbau der Oder stehen, nutzen diese wilde Karte für sich. Eine tiefere Fahrrinne, so deren falsche Argumentation, sorge für den gesicherten Einsatz von Eisbrechern und somit Handlungsspielraum bei Eishochwasser. Im Lobbyisten Klartext: Ausbau der Oder bedeutet Management von Hochwasser. Umweltschutzmassnahmen führen zu Überflutungen. Die mit der Angst geschürten Bilder sind eindrücklich. Einen Fluss aber, der für Jahrhunderte tot ist, kann sich keiner vorstellen.

Kenneth Anders, einer der beiden der Programmleiter des Oderbruchmuseums in Altranft, versteht die Mentalität der Menschen hier. Der Kulturwissenschaftler, der auch ein Büro für Landschaftskommunikation betreibt, spricht von einem Lernprozess, der sich zwölf Generationen zurückverfolgen lässt, seit die aus ganz Europa stammenden Kolonisten begannen, die neu gewonnenen Ackerbau-Gebiete zu bestellen. Anders war es, der sich gemeinsam mit einer eigens dafür gebildeten Initiative hinter den Antrag des gerade eben verliehenen Europäischen Kulturerbe-Siegels klemmte: man suchte nach einer Möglichkeit die Menschen hier anzuerkennen für das, was sie mit der Landschaft verbindet. Und fand einen Weg in der Deklaration der Kulturlandschaft.

„Gerade noch rechtzeitig“, bezeichnet Anders den Verleih des Europäischen Kulturerbe-Siegels für den Oderbruch, knapp drei Monate vor dem Fischsterben. „Nach dieser Katastrophe würden wir diesen Siegel garantiert nicht mehr erhalten.“ Mit dem Siegel sollte der Ausdruck europäischer Werte in der Geschichte der Landschaft gewürdigt werden. Im Antrag heißt es: “Diese Kontinuität zeugt von einem charakteristischen europäischen Verantwortungsbewusstsein, dem es zu verdanken ist, dass aus einem radikalen und gewagten Eingriff in den Naturhaushalt eine nachhaltig bewirtschaftete Kulturlandschaft werden konnte.“ Das Gütesiegel hätte die Region von einem Geheimtipp zu einem Ausflugsziel mit einer Vision für das nachhaltige Zusammenspiel von Mensch, Kultur und Natur erheben können. Kein Grand Canyon, aber ein Raum, in dem Komplexität und Zusammenspiel von Menschen und Natur trotzdem als etwas besonderes wahrgenommen werden kann. Stattdessen erinnert die Katastrophe an die Versäumnisse, Unzulänglichkeiten und das Missmanagement der beteiligten Akteure, auch auf europäischer Ebene.

„Jetzt blicken wir auf ein ökologisches Desaster, das zu einem Experiment geworden ist, das nicht beabsichtigt war: Wir können in den nächsten Jahren untersuchen, ob und wie ein Fluss sein Leben zurückgewinnt”, sagt Wolter vom IGB. Es gibt Fische in der Oder, wie den Goldsteinbeißer, die als “verschollen” gelten. Auch lebt in der Oder eine der letzten europäischen Kolonien der Baltischen Störe. Das IGB betreibt seit mehr als 25 Jahren Fischzuchtanlagen. Dies war das erste Jahr, in dem die jungen Störe zum Laichen in den Fluss zurückkehrten. Sie sind alle tot. Es gibt unzählige weitere solche tragischen Beispiele. Wenn alle Muscheln verschwunden sind, gibt es keine Organismen mehr, die das Wasser filtern. Keine Schnecken bedeutet keine Nahrung für Vögel, Frösche, Kröten. Ohne Vögel keine Füchse. Der Fluss stirbt, die Landschaften darum mit ihm.

“Zärtlichkeit ist die tief gefühlte Sorge um ein anderes Wesen und seinen Mangel an Immunität gegen Leid und die Auswirkungen der Zeit. Zärtlichkeit nimmt die Bindungen wahr, die uns verknüpfen, die Ähnlichkeiten und Gleichheit zwischen uns. Es ist eine Art zu sehen, die die Welt als lebendige zeigt, lebend, vernetzt, kooperierend und abhängig“, schreibt die polnische Autorin Olga Tocarczuk in ihrer Dankesrede für den Literaturnobelpreis 2019.

Eine sehr beschauliche Anzahl von Umweltschützern zu beiden Seiten der Oder versammelten sich im September und sangen dem Fluss zu. „Live oder Die“ hieß die Initiative, die von Norbert Bartel und seiner Lebensgefährtin ausging.

Vielleicht kam das Siegel für das Europäische Kulturerbe Oderbruch doch nicht zum falschen Zeitpunkt. Anstatt auf die Errungenschaften vergangener Generationen zurückzublicken, könnte es dazu anregen, den Blick nach vorne und in die Landschaft hinein zu richten: Wie können wir sie gestalten und Verantwortung übernehmen, damit dieser Lebensraum nicht nur uns Menschen dient, sondern vielen Arten eine Heimat bietet, die zusammen ein Netzwerk des Lebens flechten? Wie können wir den Fluss nicht als gewinnbringende Wasserstraße, als Müllkippe für unerwünschte Abwässer oder als bilaterales Problem sehen, sondern als eine Entität, die seine Ufer mit mehr erfüllt als der Präsenz von vorbeifliessendem Wasser. Ein Lebensraum, der auch kommenden Generationen von Menschen, Tieren, Pflanzen eine Heimat bildet und vom Leben am Fluss erzählen kann. Nur 15% aller Flüsse und Binnengewässer Deutschlands zählen momentan als gesund.

Im November testeten Dr. Wolter und sein Team wieder den Salzgehalt der Oder. Die Werte waren genauso hoch wie im Sommer. Er hat keine Zweifel: eine weitere trockene, Hitzewelle, begleitet mit diesen hohen Werten von Industriesalzen und der Fluss ist tot. Das IGB hat einen Massnahmenkatalog aufgestellt, der sich wie eine Doomsday Prophezeiung liest. Die Ansagen sind unmissverständlich. Zuallererst: klare Regelungen für die Abflüsse. Dann Renaturierung. Wird diesbezüglich keine Einigung gefunden, stirbt der Fluss, eine Landschaft, ein Kulturerbe.

Das Wasserstraßenamt, der Hauptverantwortliche für den Fluss, hat bis heute noch keine Stellungnahme zum Fischsterben abgegeben. Auf ihrer Website heißt es unter dem Oberbegriff “Umwelt und Ökologie”: “Wasserstraßen sind mehr als nur Transportwege. Sie sind ein integraler Bestandteil der Natur. Auf der Grundlage dieses ganzheitlichen Verständnisses verstehen wir uns als Vermittler, wenn wirtschaftliche Interessen mit ökologischen Interessen in Konflikt geraten, und haben dabei stets die Belange der Natur im Blick.”

Sein Schweigen lastet schwer über einer Landschaft und allem, was darin noch lebt.

Michaela Vieser
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Written by Michaela Vieser

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